Ganz objektiv gesehen war ich um den entscheidenden Sekundenbruchteil eher an der Stelle, an der unsere Wege sich kreuzen mussten. Also musste sie kurz vor dem Zusammenprall ihre Schritte ein wenig verlangsamen oder auch zwanzig Zentimeter vom geraden Weg abweichen.
Wieder einmal habe ich meine Pendlernerven unter Beweis gestellt. Ich habe es endlich begriffen. Wer höflich sein will, soll sich zu Stosszeiten nicht auf die gut frequentierten Plätze der Stadt begeben, nicht auf den Bahnhofplatz, vor allem aber nicht in den Bahnhof, nicht aufs Perron, vor allem aber nicht in die Züge. Wer höflich ist und ausweicht, macht unversehens nur noch das: Ausweichen nach links, ausweichen nach rechts. Wer andern den Vortritt lässt, wird mit Garantie als Letzter durchs Nadelöhr gehen, sei es eine Tür, ein Aufzug, eine Rolltreppe. Wer mit dem Ausstieg aus dem Zug nur ein wenig zögert, wird unweigerlich von der einsteigenden Schlange am Verlassen des Zuges gehindert, ausser er setze sich dezidiert durch, auf oberflächlich gesehen ziemlich brüske und nicht ganz höfliche Art.
Wie weit ist es mit mir gekommen? Ich, der noch vor wenigen Jahren sich als Gentleman alter Schule gerierte, der sich nichts armseligeres vorstellen konnte als diese Aussage einer finnischen Politikerin: „Wenn ich Blumen will, kann ich mir die selber kaufen“…. Ich weiss, an den Blumen herbeigezogen, dieser Abschwenker, aber dieser Tiefpunkt der Mann-Frau-Beziehung ist mir direkt durch die Zirbeldrüse ins Gehirn gefahren und wird bei jeder Gelegenheit wieder aktiviert. Schlenker hier vorbei.
Und jetzt widerstrebt es mir schon, drei Mädchen auszuweichen, die mit eingeknickten Handtaschenarmen dahertrippeln, weil ich die Pendlerangewohnheiten schon so stark verinnerlicht habe, ja keine unangebrachten Wartereien anzuzetteln – und Vortritt lassen führt an einer anderen Stelle eben immer zu einer kleinen Verzögerung, mit der Gefahr eines veritablen Staus. Jedenfalls haben alle diese Angst im Nacken und verhalten sich entsprechend.
Mir langt’s nun. Ich kehre wieder zurück zu meiner Kinderstube, lasse wieder den Vortritt, weiche wahrscheinlich gar wieder vermehrt aus, auch wenn es mit dem Velo an der Hand umständlicher ist als ohne. Rücksicht nehmen, auch wenn ich vielleicht lieber schwierig täte. Ich lasse mich doch nicht von der Hetze zum Bünzli machen.
So aufgewertet wird Warten, Zaudern, Schlendern direkt zum Inbegriff von allem was wir alle gern sein möchten.