Veloverlad – ein interessante Blog, glaubzmer

17/11/2013

Investigativer Journalismus hahaha

Filed under: Lesen — Hotcha @ 08:13

Ein Medienjunkie bin ich, seit ich lesen kann, so wenigstens kommt es mir vor. Auf dem Höhepunkt meiner Karriere habe ich manche Woche so 40 bis 50 Franken für Zeitungen und Zeitschriften ausgegeben, entsprechend viel Altpapier musste ich jeden Monat entsorgen.

Ein paar Jahre arbeitete ich gar in einem Beruf, wo ich pro Tag an die 30 Zeitungen durchforsten musste. Nie war Arbeit schöner.

Heute bleibt es bei sporadischer Zeitungslektüre; kaufe ich mir mal eine, ist es die Süddeutsche oder die Zeit, weil es die auf dem Kindle günstig gibt. Ansonsten reicht mir, was in Kantinen, Lesesälen oder Restaurants so rumliegt. Und jeden Sonntag die Tribune Dimanche, das welsche Pendant zur Sonntagszeitung, nur nicht so stinklangweilig, nur nicht so unnötig.

Jetzt entwöhne ich mich auch schon von den elektrischen Zeitungen. Gestern habe ich mir wieder mal die Süddeutsche auf den Kindle gezogen, die dicke Samstagsausgabe. Es blieb bei einem kurzen Durchblättern, nichts konnte meine Aufmerksamkeit wecken. In einem Moment der Langeweile, beim Warten auf das Kochen des Abwaschwassers, habe ich dann doch mal einen Artikel gelesen, pure Zeitverschwendung war das. Ein total fades Interview auf der früher so kontroversen Medienseite. Um keine Leser zu verlieren, mag ich es gar nicht zusammenfassen. Ihr würdet mir noch einschlafen, mitten im Satz.

Die gedruckten Zeitungen haben mich verloren, als die Redaktionen landauf, landab sich für die Google-Steuer zu Gunsten der Verlage ins Zeug legten. ‚Leistungsschutzrecht‘ nannten sie sie. Die Online-Zeitungen haben mich schon fast ganz verloren, weil die Artikel schamlos und systematisch aus einer Neuigkeit und danach einem Rattenschwanz Archivmaterial zusammengestiefelt werden.

Google und Wikipedia habe ich selber, liebe Verlage, liebe Redaktionen.

Auch die Gewohnheit einiger Presseportale, zu einem Newsartikel weitere Links anzubieten, die sich dann allesamt als Uraltmaterial entpuppen, was man erst nach dem Öffnen des Links sehen kann – auch diese vermeintliche Schlaumeierei vertreibt mich zunehmend. Wer zwanzig Mal derart zum Klickvieh degradiert worden ist, hat seine Lektion gelernt.

Am allerschlimmsten aber ist die permanente Affirmation, die sich breit zu machen scheint. Typisch sind die Interviews mit ‚Experten‘, die natürlich die eigene Recherche ersparen, ich kann das ja verstehen, der Zeitdruck ist gross.

Ich muss sie aber bei allem Verständnis auch nicht lesen.

Richtig muff aber bin ich heute morgen geworden, über dieses Interview mit Alice Schwarzer in Sonntag-Online: 43 Politiker fordern Prostitutionsverbot. Witzig, bei der männernden Überschrift: Im Text ist dann vor allem von Frauen die Rede und

auch etliche Männer unterstützen das Postulat: BDP-Präsident Martin Landolt oder die SVP-Nationalräte Oskar Freysinger, Hans Kaufmann und Hans Fehr gehören dazu.

Aber wer wird denn gleich mit der Goldwaage um sich schmeissen?

Nein, das Ärgernis sind die Interviewfragen.

  • Was sagen Sie dazu, dass die Schweiz auch ein Prostitutionsverbot prüft?
  • Können Sie sich vorstellen, dass ein Verbot Erfolg hat?
  • Ist Ihr Apell [die schreiben das wirklich so!] gegen die Prostitution erfolgreich?
  • Ist ein Verbot nicht kontraproduktiv?

Sonntagsfrage bei Sonntag-OnlineWelche Antworten erwarten wohl die zwei(!) Journalismusprofis auf diese Fragen auf dem Niveau einer Schülerzeitung? Vielleicht, dass sie sagt, es sei schlimm, dass die Schweiz ein Prostitutionsverbot prüfe, dass ein Verbot kaum Erfolg haben dürfte, ihr Appell erfolglos sei, ein Verbot kontraproduktiv?

Wie gesagt, für diese Fragen brauchte es zwei, Journalistin und Journalist!

Da stehen dann unwidersprochen, ungeprüft Sachen wie in der letzten Frage/Antwort:

(Frage) Und wenn die Frauen in den Untergrund abwandern?
(Antwort) Schlimmer kann es für die Frauen in der Prostitution nicht mehr kommen. In Deutschland sind heute Hunderttausende von Armuts- und Zwangsprostituierten vorwiegend aus Rumänien oder Bulgarien im Untergrund. Sie werden als «Frischfleisch» von Grossbordell zu Grossbordell geschoben – und landen irgendwann auf der Strasse. Diese Frauen sind nicht registriert, es gibt keine Gesundheitskontrollen mehr, niemand kennt sie. Sie könnten von heute auf morgen einfach verschwinden. Niemand würde es merken. .

Ich bin ja nur ein gewöhnlicher Leser, aber sogar ich merke, dass diese Antwort völlig an der Sache vorbeizielt und ausschliesslich Emotionen schüren will. Erstens mal ist das, was Schwarzer hier anprangert, bereits heute gesetzlich verboten; zweitens trifft diese Beschreibung nicht für alle Frauen in der Prostitution zu.

Lest dazu, wenn’s denn Lust habt, lieber den Artikel beim Freitag. Verlinkt gefunden bei Julia Seeliger.

Nächstes Mal werde ich dann über den Niedergang der Blogs klönen.

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