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19/03/2016

In Wien, wo Bettler neu mich beuteln

Filed under: Unterwegs — Schlagwörter: — Hotcha @ 19:41

In Wien habe ich schon vor Jahren ein Hardcore-Betteln gesehen, das gibt es so bei uns nicht. Vor allem Flüchtlinge aus dem Irak, noch vor der Syrienkrise also, zeigten Beinstümpfe vor, rollten auf Brettern durch die Strassen, knieten stundenlang auf der Strasse, die Stirn auf dem Asphalt, die Hände nach Almosen ausgestreckt, ein fast unerträgliches Bild. Aber ich sah das vor allem in den türkisch dominierten Ecken, um den Reumannplatz, im Bezirk Favoriten. Dort habe ich natürlich auch immer gewohnt.

Jetzt ist wahrscheinlich die ganze Stadt in ein Netz bettelnder Profis aufgeteilt worden, ich sehe das am deutlichsten hier am Westbahnhof, wo die immergleichen Gesichter an den immergleichen Ecken stehen. Am schlimmsten der Mann mit den total blutunterlaufenen Augen, der für eine Operation bettelt. Am erträglichsten die Frauen mit Kinderbildern, die sie vor sich liegen haben. Weil hier kann man sich sagen, tja, solche Bilder kann ja jede herzeigen. Und man weiss ja, die Bettler sind organisiert, es gibt Bosse, die kassieren, es gibt Reviere, die verteidigt werden, es gibt Bilder aus Rumänien von luxuriösen Anwesen mercedesfahrender Klans.

Genaues weiss man nicht. Vermutet wird vieles. Aber eines ist klar: Für viele dieser Leute ist es die einzige Möglichkeit, einem Leben ohne jegliche Perspektive wenigstens für eine Zeit lang zu entkommen. Heute, beim Betreten einer Bäckerei im Westbahnhof, haut mich ein kräftiger junger Mann an, vielleicht 17 oder 18 mag er sein, er bittet mich um Geld für Essen. Und drin all die herrlichen weissen Backwaren. Lügt er mich nun an? Egal, ich drücke ihm 4 Euro in die Hand. Denn was kann er denn dafür, dass er in die Ecke der Chancenlosen hineingeboren worden ist? Keine Ahnung, ob er sich dann was gekauft hat. Ich habe nicht hingeguckt.

Seit zwei Wochen bin ich in Wien. Am Anfang konnte ich die Bettelei ganz intellektuell wegtun. Mit Argumenten wie oben. Es wird viel geschrieben, viel berichtet über das organisierte Bettlertum. Aber mit der Zeit merkt man, das ist im Minimum eine Art Arbeit, ach, man kann es einfach nicht mehr so wegschieben. Und ich habe mir jetzt angewöhnt, das Kleingeld immer in der Hosentasche mit mir zu führen, die Cents hinten, die Euro vorne, manchmal auch bunt gemischt. Und gebe jetzt sehr oft, manchmal nur wenig, manchmal ein paar Euro aufs Mal. Aber nie aus dem Portemonnaie. Das kommt einfach nicht gut. Aber so habe ich das Gefühl, es kostet mich ja praktisch nichts. Und ihnen hilfts, irgendwie. Sei es, dass sie sich was kaufen können. Sei es, dass sie am Abend nicht verprügelt werden vom Boss. Was weiss ich da schon.

Es hat auch viel dazu beigetragen, dass ich die Stadt teilweise als extrem klamotten- und handygeil erlebe. In der U-Bahn starren sehr oft drei von vier auf ihren Bildschirm, 8 von 10 tragen ihr Smartphone offen in der Hand, sogar beim Gehen wird die Diretissima bevorzugt, man starrt auf sein Gerät, die anderen werden schon ausweichen. Dann natürlich gestylt von den grossen internationalen Ketten mit den immer neu ausschauenden schwarzen Klamotten, den Sneakers, Stiefel, Stiefeletten. Die Haare.

Und dann so junge Männer, wie der vor der Bäckerei.

Von der Gewalt habe ich noch gar nichts erzählt. Man spürt vielerorts eine gruppenspezifische Aggression. Eine typische Szene habe ich auf einem grossen, stark frequentierten Platz in einem Quartier des sozialen Wohnungsbaus erlebt: Sicher zwanzig bis dreissig Polizisten und Polizistinnen, Einsatzwagen, auf dem Platz, in den Strassen um den Platz. Auf dem Platz selber eine ganz unglaubliche Szene, zwei junge Männer werden offenbar von der Polizei gestellt, sie dürfen auf jeden Fall nicht weg. Dabei zwei Polizisten, ich kann nicht aufhören, die anzustarren, ich habe noch nie solche Kraftbündel gesehen, Arme wie Überseekabel, Körper wie Schränke. Und die zwei Jungs stehen da, wippen auf dem Aussenrist, grinsen herausfordernd, alle warten auf etwas, weiter hinten stehen andere Jungs, ihre Kollegen vielleicht. Die zwei haben hier ihren grossen Moment, und die Polizei gibt ihnen die Kulisse dazu. Zwei Züge, die auf dem selben Gleis aufeinander zurasen. Und niemand tut etwas.

Seit ich mit Polizisten gearbeitet habe, ertrage ich es nicht mehr, wenn Kollegen sie Bullen nennen. Seit ich Männer hier beim Betteln gesehen haben, kräftig, im besten Alter, ertrage ich es nicht mehr, dass man ihnen finstere Motive für ihr Tun unterschiebt. Denn Betteln ist gewiss nicht lustig!

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